猛虎行
Han Yu 韓愈 (768–824)
猛虎雖云惡,亦各有匹儕。 群行深谷間,百獸望風低。 身食黃熊父,子食赤豹麛。 擇肉於熊豹,肯視兔與貍。 正晝當谷眠,眼有百步威。 自矜無當對,氣性縱以乖。 朝怒殺其子,暮還食其妃。 匹儕四散走,猛虎還孤棲。 狐鳴門兩旁,烏鵲從噪之。 出逐猴入居,虎不知所歸。 誰云猛虎惡,中路正悲啼。 豹來銜其尾,熊來攫其頤。 猛虎死不辭,但慚前所為。 虎坐無助死,況如汝細微。 故當結以信,親當結以私。 親故且不保,人誰信汝為。
Die Erzählung vom wilden Tiger Erwin von Zach (1872–1942)
— in: Zach, Erwin von. Hightower, James Robert (ed.). Han-Yü's poetische Werke, Harvard-Yenching Institute studies. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1952. p. 175f.
Obwohl der wilde Tiger bösartig ist, hat er auch seine Freunde und Genossen. Mit ihnen lebt er rudelweise in den tiefen Tälern, die anderen Tiere fürchten seinen Ruf und ziehen sich vor ihm zurück. Er selbst frisst den alten, braunen Bär, und seine Jungen nähren sich von jungen Panthern. Wer sich Bären und Panther als Futter wählt, kümmert sich natürlich nicht um Hasen und Füchse. Mitten am Tage ruht er im Tale, und seine Augen flössen auf hundert Schritt Entfernung Respekt ein. Er brüstet sich selbst, dass niemand ihm entgegenzutreten wagt; dabei ist sein Temperament voll Tücke und Bosheit. Morgens tötet er im Zorne eines seiner Jungen, Abends wieder verspeist er seine Lieblingsfrau. Da fliehen seine Freunde und Genossen nach allen Seiten, und der wilde Tiger sitzt wieder ganz allein. Füchse necken ihn am Eingang seiner Höhle, Rabe und Elster rufen ihm spottende Worte zu. Er kommt heraus, um sie zu vertreiben und flugs macht sich der Affe breit in seiner Höhle; da weiss der Tiger dann nicht mehr, wohin er sich wenden soll. Wer würde noch behaupten, der wilde Tiger ist bösartig, beginnt er doch jetzt, mitten am Wege vor Kummer zu heulen. Der Panther kommt und beisst ihm in den Schwanz, der Bär erscheint und schlägt ihm ins Gesicht. Der wilde Tiger stirbt, weil niemand ihm helfen will. Wie steht es erst um Euch, Schwache und Unbedeutende? Freundschaft muss nämlich auf Vertrauen gegründet sein, Verwandtschaft muss sich auf Liebe stützen. Wenn Verwandte und Freunde Dir nicht vertrauen, wer anders sollte Dir dann noch Glauben schenken?